Amalthea
Amalthea
Haben mich als Kind viele Filme begeistert und gefesselt, so schien es mir, als ob dieser Effekt mit zunehmendem Alter verschwindet. Doch „Avatar“ hat mich hier eines Besseren belehrt. Es liegt also doch nicht an altersbedingter Abstumpfung, sondern an der zweifelhaften Qualität vieler neuerer Filme. Anders „Avatar“: Den habe ich inzwischen viermal gesehen und die Begeisterung ist ungebrochen. Nach jedem Besuch bin ich höchstens einen Tag lang gesättigt und ertappe mich dann wieder beim Träumen von Pandora. James Cameron vermittelt in seiner ersten Kinoarbeit nach „Titanic“ den Eindruck, dass er mit seinen bisherigen Mammutproduktionen nur für diesen Film hier geübt hat. Der kommerziellen Erfolg, der ja nur ein Symptom der weltweiten Begeisterungswelle ist, hat inzwischen alles hinter sich gelassen.
Die Handlung führt den Zuschauer zum fiktiven Planeten Polyphemus im uns benachbarten Alpha-Centauri-Sonnensystem. Genauer gesagt auf dessen erdähnlichen Mond Pandora, auf dem eine hiesige Bergbaufirma mit großem Aufwand und viel militärischer Begleitung ein wertvolles supraleitendes Mineral abbaut. Das bringt die Menschen gegen die Na’vi auf, die naturverbundenen Ureinwohner Pandoras. Die entstehenden Konflikte sind nicht überraschend und die auf „Pocahontas im Weltraum“ hinauslaufende Geschichte sehr geradlinig und nicht ausgefallen. Doch das stört nicht weiter, denn die Illusion von Pandora ist in jeder Hinsicht perfekt. Der Film ist technisch so revolutionär wie damals Disney’s „Schneewittchen“, der sowohl der erste Zeichentrickfilm war, als auch den Durchbruch für den Farbfilm brachte. „Avatar“ ist ein Meilenstein für die Computeranimation und kann getrost zum ersten ernstzunehmenden 3D-Film gekürt werden. Er wird diese Technik als neue Art des Filmemachens etablieren und für die kommenden fünf Jahre die Messlatte für alle derartigen Filme sein.
Hinter dieser visionären Umsetzung steckt das Genie von James Cameron. Das von ihm selbst geschriebene Drehbuch ist zwar wenig komplex, enthält aber mit Motiven von Tod und Wiedergeburt, einer klaren Botschaft für Verständigung und gegen Maßlosigkeit und einer vordergründigen Liebesgeschichte alle Elemente, die man für großes Emotionskino braucht. Auf dieser Klaviatur spielt Cameron meisterhaft. Die Filmmusik von James Horner trägt zwar die Emotionen mit, ist aber nicht überraschend oder inspirierend. Über das simple Abbilden von exotischer Umgebung mit Ethno-Klängen kommt Horner nicht hinaus und wie üblich erkennt man schnell die Baukastenstücke aus früheren Vertonungen von ihm.
Die optische Gestaltung von Pandora ist atemberaubend schön. Man spürt die Detailverliebtheit, die das Effekthaus Weta schon unter Peter Jackson beim Herrn der Ringe demonstrieren konnte. Von den Zwängen irdischer Realität befreit konnten die Designer um Rick Carter und Robert Stromberg die Flora und Fauna eines ganzen Planeten neu erschaffen. Wir sehen viele fremdartige Wesen – die meisten Bewohner Pandoras sind Sechsfüßler – die in ein stimmiges und glaubhaftes Ökosystem integriert sind. Bis zu den in der Luft schwebenden Pollen ist alles mit unglaublicher Opulenz umgesetzt. Besonders sehenswert sind die Nachtaufnahmen, da alle pandoranischen Lebewesen biolumineszent sind.
Bewohnt wird Pandora von den Na’vi – blauhäutigen Humanoiden, die wie ihre Umwelt vollständig am Computer entstanden sind. Noch nie hat man digitale Charaktere so lebensecht im Film gesehen. Die Rendertechniken für den Detailgrad bis hinunter zu Hautporen und für Massenszenen mit hunderten von Na’vi mussten völlig neu entwickelt werden. Bisherige Systeme hätten die entstehenden Datenmengen von einem Terabyte pro Produktionstag gar nicht bewältigen können. Für diese technische Schwerstarbeit im Dienste zuvor unmöglicher Ästhetik ist Joe Letteri der nächste Oscar so gut wie sicher. Einziges Problem der neuen Technik ist, dass man das gute Schauspiel in diesem Film nicht den menschlichen Schauspielern zuschreibt. Sowohl die Na’vi als auch die Avatare wurden als Ganzkörper-Marionetten mit Motion-Capture-Technik von Schauspielern gesteuert. Obwohl die digitalen Gesichter ihren menschlichen Akteuren nachempfunden sind, sieht man im Film nicht, wieviel Ausdruck den unsichtbaren Schauspielern zu verdanken ist. Cameron hat ein Verfahren benutzt, bei dem nicht nur Körperbewegung, sondern sondern auch feinste Mimik auf der Motion-Capture-Bühne aufgezeichnet werden. Sogar die Führung der virtuellen Kamera wurde erfasst, so dass DP Mauro Fiore trotz virtueller Sets wie mit einer realen Kamera umgehen konnte. Auch ein paar der in den jüngeren JJ-Abrams-Filmen kultivierten handgehalten-verwackelten Crash-Zooms findet man.
Anders als die warme, naturalistische Welt der Na’vi ist die kalte, technische Welt der Menschen in realen Sets gedreht. Auch diese sind mit dreidimensionalen Computer-Displays und martialischem Kriegsgerät interessant gestaltet. Die zur Umsetzung nötigen Technologien mussten hier ebenfalls erst geschaffen werden. Cameron hat dazu selbst eine 3D-Kamera entwickelt, die heute als die fortschrittlichste der Welt gilt. Nicht alltäglich für verfügbare Werkzeuge ist auch die Verschmelzung von real gefilmten und computergenerierten Bildern in 3D.
Doch obwohl der Film auf so vielen technischen Gebieten Neuland betritt und eine ganze Welt erschafft, hat Cameron die Geschichte nie aus dem Blick verloren. Die Technik drängt sich nicht in den Vordergrund, im Gegenteil: auf die billigen 3D-Wow-Effekte – Gegenstände werden ins Publikum geworfen oder ragen aus der Leinwand – wird hier verzichtet. Der Film entwickelt seine Optik langsam, beginnt in geschlossenen Räumen bevor man die Weiten von Pandora genießen darf. So bleibt dem Zuschauer Zeit, sich an den 3D-Eindruck zu gewöhnen, bevor die dramatische und von Cameron viel dynamischer geschnittene Schlacht beginnt. Und trotz einer Drehweise mit Motion-Capture, die weit über den etablierten Stand der Technik einzelner digitaler Charaktere wie Gollum oder King Kong hinausgeht, gelingt es Cameron, die emotionalen Momente hautnah erlebbar zu machen: die Vertreibung und die Verzweiflung der Na’vi, der Konflikt von Jake Sully zwischen der Realität seiner Behinderung und der geliehenen Freiheit in seinem Avatar. Und auch wenn Cameron jetzt den Lucas macht und angesichts des kommerziellen Erfolges Avatar zu einer Trilogie ausbaut – mit hoffentlich besserem Ergebnis als bei „Terminator“, so ist ihm mit diesem Film in jedem Falle ein bleibender Meilenstein des Kinos der neuen Dekade gelungen. Ein Film, den man unbedingt in 3D im Kino erlebt haben muss. Durchaus auch mehrmals, zu sehen gibt es genug.
Filmkritik: Avatar – Aufbruch nach Pandora
Samstag, 30. Januar 2010